20. Oktober 2019 Die schönsten Geschichten aus den Dobermann-Rallye-Archiven 22 Martin Bartholmy IN DER WOGENLEEREN HÖHLUNG Sie merken schon, diese Geschichte ist einen Tick kompliziert; sie scheint ein wenig verworren. Sie merken schon, hier ist einiges durcheinander geraten – Zeit und Raum beispielsweise. Eben das aber führt zum Kern der Geschichte, dieser Geschichte, die ganz eben selbst Ursache all dieser Verschlingungen und Klitterungen ist. Und: Wo fange ich an? Beginnen wir – zu sehr soll im Verwirrenden nicht noch weiter verwirrt werden – beginnen wir mit Altbekanntem, mit Gewohntem, mit Zuständen, von denen sich das ganz Andere irgendwie ableitet oder ableiten lässt: Kalle, so nennen wir eine Parkuhr, die schon seit Jahren fest im Straßengrund der Stuttgarter Innenstadt steckt. Übrigens nennen nur wir ganz für uns jene Parkuhr bei diesem Namen, erinnert sie uns doch mit ihrem Zyklopenauge an den einäugigen Kater Kalle, den wir früher als Haustier hatten. Und wie der Kater schnurrt die Parkuhr, wenn man nach Münzeinwurf ihr Rädchen dreht und sie einem dann, schnurr-di-burr, die zum Parken gestundete Zeit aufzieht. Es ist 1974. Ein gutes Jahr. Deutschland wird Fußballweltmeister. Jetzt ist es April, der 4. April. Die Parkuhr weiß schon: Deutschland wird Weltmeister werden. Woher die Parkuhr dieses Vorwissen bezieht? Nun, es ist eben nicht irgendeine Parkuhr. Wir werden sehen. Momentan denkt die Parkuhr nicht an Fußball. Die Parkuhr wartet auf ihre Kusine Evi Sachenbacher. Eine Namensvetterin dieser Kusine wird bei den olympischen Winterspielen 2002 in Salt Lake City überraschend eine Medaille im Langlauf gewinnen. Auch das weiß die Parkuhr. Im Moment denkt sie aber auch daran nicht. Wenn man alles schon im Voraus weiß, kann man an all diese Dinge nicht auch noch denken. Bleibt die Frage, wie die Parkuhr zu einer menschlichen Kusine kommt. Nun ja: Gute Frage! Und nicht leicht zu beantworten. Ungefähr, sagen wir mal, verhielt es sich so: Die uhrenungemäße Kusine Evi war irgendwie angeheiratet, zugezogen, anverbandelt, umgemendelt, beigeordnet. In der Uhrenverwandtschaft nannte man sie, ob ihrer schwer zu übersehenden menschlichen Natur, scherzhaft „die nouvelle Kusine“. Auch erging man sich gerne in ulkigen Anspielungen der Art, die fremde Kusine ‚ticke wohl nicht ganz richtig’. Unsere Parkuhr jedoch, mein Kalle, liebte seine Kusine sehr und entgegnete auf solches Lästerwerk, ging es ihm zu sehr auf den Zeiger, schon einmal: „Dafür ist bei ihr sicher auch kein Rädchen locker.“ Und recht hatte er. Bei Evi war kein Rädchen locker. Heute allerdings ließ Evi unsere Parkuhr warten. Zwar war sie gleich nach Feierabend aus der Soßenbinderfabrik, in der sie dem Team der Zusatzstoffrührer vorstand, nach Hause gefahren. Allein, eine Sehnenscheidenentzündung, von der sie meinte, sie habe sie sich beim Proberühren neuer Geschmacksverstärker zugezogen – wir, wie auch die Parkuhr, kennen die wahre Ursache der Entzündung, Evi jedoch konnte sie nicht kennen, waren doch 1974 Computermäuse noch nicht erfunden – die Sehnenscheidenentzündung jedenfalls hatte sie, ungeachtet ihrer fragwürdigen Anamnese, bei der Lenkarbeit am Steuer ihres Opel Eridu so behindert, dass sie am Pragsattel einen anderen Wagen, ausgerechnet einen neuen Daimler, leicht streifte. Die Aufregung und die versicherungsbedingt notwendigen Absprachen hatten ihren Zeitplan über den Haufen geworfen. Und deshalb war sie an diesem Abend spät dran für ihren Volkshochschulkurs über sumerische Schöpfungsmythen. Unsere Parkuhr, günstig vor der Volkshochschule gelegen, machte sich bereits Sorgen – 19 Uhr 40. Kursbeginn war um halber Acht. Da kommt Evi angebraust. 19 Uhr 43. Sie parkt eilig ein. Reifen quietschen am Bordstein. Noch schnell ihre Tasche, das Portemonnaie. Autoschlüssel? Abschließen und zur Parkuhr. Die wackelt schon unmutig mit dem Drehknopf. Evi zieht einige Groschen hervor, wirft sie ein, dreht am Rädchen, schaut gleichzeitig auf die Uhr und sagt: „Dammich, schon 19.44.“ Ein leises Vibrieren. Es schwummert ein wenig. Hitzespiegelungen vielleicht? Aber abends? Im April? Die Parkuhr ist verschwunden, weg, keine Spur, nichts, keine Trümmer, kein Loch im Asphalt, Leere, Luft. Evis Groschen fallen zu Boden. Einer rollt in den Gulli, andere rollen bergab. Ein Groschen bleibt liegen, wie tot. Ein Skarabäus krabbelt herbei und kugelt ihn fort, in eine andere Zeit. 1944. Bomben fallen auf Stuttgart. Gelegentlich hört man auch Flak. Die Standuhr im Wohnzimmer lauscht. 19 Uhr 40. Die Einschläge kommen näher, leicht zittern die Holzdielen. 19 Uhr 43. Putz fällt von der Decke. Die Standuhr knurrt und schnarrt. Sie bereitet in ihrem Inneren den nächsten Schlag vor. Gleich ist es Viertel vor Acht. 19 Uhr 44. Etwas birst, es staubt, die Standuhr fällt. Die Parkuhr träumt von ihrem Vater. 1944 ist er gefallen, um 19 Uhr 44. Uhren vergessen nicht. Zufällig stimmten die Zahlenreihen überein. Was dann geschah, war kein Zufall. Eins Neun Vier Vier. Die Standuhr war weg. Eins Neun Vier Vier. Die Parkuhr hat einen epileptischen Anfall. Eins Neun Vier Vier. Die Standuhr reinkarniert. Eins Neun Vier Vier. Die Standuhr ist Standuhr gewesen; die Standuhr ist Mondamin geworden – Mondamin, der 19. König der 44. Dynastie von Ur, Sumer, im Zweistromland. Hier müssen wir daran erinnern, dass die Sumerer mit dem Sexagesimalsystem rechneten. Mathematik, Religion und Staatskunde waren damals ein integrierter Studiengang. Auch die Dynastien gehorchten diesem Zahlensystem. Ein König herrschte genau 60 Tage. Nach 60 Dynastien war Schluss. Dann waren die Akkader an der Reihe. Aus Ur die Uhrzeit. Aus Ur das Sexagesimalsystem – noch heute hat die Stunde sechzig Minuten. Die Stadt Ur schrieb sich ursprünglich ohne H; das Sumerische kennt kein H. Der Buchstabe H wurde erst später von den Hethitern erfunden, aus naheliegenden Gründen. Spätestens in der Hethiterzeit geriet auch das Sexagesimalsystem der Sumerer in Vergessenheit. Bereits beim Turmbau von Babel, so wissen wir heute, experimentierte man mit dem dezimalen Maßsystem. Da konkurrierend noch das ältere Sechser-System bestand, gab es Missverständnisse, und der Turm wurde um einiges zu hoch in den Himmel gemauert – babylonische Zahlenverwirrung. So werden Mythen geboren. Um eine Wiederholung dieser peinlichen Panne zu verhindern, schaffte der drakonische Hammurapi salomonisch das alte Sechsersystem ganz ab. Nur bei der Uhrzeit, beim Eiskunstlauf und beim Lottospielen hat sich das alte Zahlensystem noch ein wenig erhalten. Randnotiz: Die Vereinheitlichung der Zahlensysteme hat sich in der Folge sehr bewährt. Alles wäre gut gewesen, hätten Engländer und Anglophile nicht eine Extrawurst bestellt. Es kam, wie es kommen musste, der Turmbau von Babel wiederholte sich, wie allgemein bekannt, in dem finnischen Dorf Kerimäki. Dort baute man um 1845 eine Holzkirche. Im Bauplan waren die Abmessungen der Kirche in Fuß angegeben. Die Finnen, als gute Europäer, führten den Bau plangetreu, jedoch in Metern, aus. In Kerimäki steht die größte Holzkirche der Welt. Ein anonym gebliebener finnischer Dichter schrieb aus diesem Anlass einen Merkvers, den noch heute jedes Kind zwischen Helsinki und Polmaki auswendig hersagen kann: Zwischen Ur und Uruk Fährt der 60er Bus. Vom Ural nach Uruguay Fährt er nicht, das ist zu weit. Ende der Randnotiz und zurück nach Mesopotamien. Dort war es Usus, dass jeder König innerhalb seiner 60tägigen Regierungszeit etwas erfand. Das Gottkönigtum bedingt bei Untertanen eine gewisse Erwartungshaltung. Und die will befriedigt werden. In der 44. Dynastie wurde das Zweistromland bekanntlich von Sintfluten noahesquen Ausmaßes heimgesucht. Etwas Flutdämmendes wäre da sehr marktgerecht gewesen – nur was genau sollte das sein? Mondamins Vorvorgänger, Mondragon, hatte sich den Flammenwerfer auf Eidechsenbasis patentieren lassen. Sein Nachfolger Mondrian hatte grundfarbene Rettungsinseln erfunden, auf denen man sich, bis Rettung kam, mit einer Urform des Damespiels die Zeit vertreiben konnte. Mondamin ließ eine Marktanalyse erstellen. Und siehe: Was fehlte, war ein Flutbinder. Also erfand er einen, in nur sechs Tagen und Nächten. Bei der Markteinführung zeigte sich allerdings, dass die flutbindende Wirkung zwar tadellos vorhanden, allein nicht ausreichend viel von dem Pulver zu produzieren war, um eine echte Spring- oder Sturmflut zu binden. Feldstudien bei Hüpf- und Kleinfluten verliefen ebenfalls wenig ermutigend. Zwar wurde das unerwünschte Salzwasser von dem Pulver fein abgebunden, hernach jedoch hatten die Bauern und Städter „den Dreck“, nämlich wahre Endmoränen von Molasse auf dem Feld, hüfthoch Pampe in den Gassen Noch heute erinnert eine alte Weise an diesen Missstand: „…sixty tons, water you get, another day older and closer to death. Heaven calls but I can’t go. I have to shovel Mondamin to the shore.“ In der Folge beließ man es deshalb dabei, mit König Mondamins Pülverchen Soßen zu binden. Und so ist es bis in die Gegenwart unserer Erzählung geblieben. Evi hielt auf die Tradition ihrer Familie, ihr Vater aber war aus der Art geschlagen. Er, der bekannte elsässische Archäologe Evian Sachenbacher, grub Altertümer aus, in Mesopotamien. Just am 4. April 1974 stieß er dabei auf das Grab von König Mondamin. Als er die Siegel des Königsgrabs erbrach, zerstörte er damit unwissentlich auch das Mondamin-Originalrezept, das man auf die Rückseite der Grabplatte gebacken hatte. Das Rezept zerbröselte. Mondamins Schädelknochen wurde zur Sanduhr. Eins Neun Vier Vier. Durch seine Augenhöhlen rieselten die Körnchen des Rezepts langsam herab, in die leere Hirnschale hinein. Eins Neun Vier Vier. Uhrzeit wird zu Unzeit. Eins Neun Vier Vier. Ein Skarabäus krabbelt herbei und kugelt die Körnchen fort, in eine andere Zeit. Und der Fluch gegen die Rezeptschänder erwacht. Der Fluch aber geht so: „Wer auch immer dieses Rezept zerstört, dem sage ich, wir wissen, wo du wohnst. Und damit du nicht glaubst, wir würden hier leere Sprüche machen, verkünden wir, dass es dir, hörst du Eins Neun Vier Vier, dreckig gehen soll, und so weiter, im Mannesstamm. Gegen weibliche Nachfahren aber wollen wir mal Nachsicht üben, die soll höchstens einmal eine Maus in die Sehnen beißen, worauf sie Armweh haben werden, für einige Tage oder auch Wochen, je nachdem. Und im übrigen wollen wir noch einmal unserer Empörung über dein Tun Luft machen. Und, achso, fast hätten wir es vergessen: Das mit dem Rezept, das ist nun auch vorbei, das Rezept funktioniert nicht mehr, haha, und statt Mondamin kommen dabei nur noch heraus Hausstaub, Backpulver, Kokain und andere weiße, pulvrige, ungenießbare Sachen. Da siehst du, was du davon hast, du elender Rezeptschänder, du.“ Die Rückrufaktion begann am nächsten Tag. Evi kündigte bei den Soßenbindern und wurde wie ihr Vater Archäologe. Die Parkuhr reinkarnierte in der Zukunft, Vier Vier Neun Eins, aber die Zukunft geht uns nichts an. Und falls Sie sich jetzt fragen, warum es im Supermarkt heute immer noch Mondamin zu kaufen gibt – das sind alles Restbestände aus der DDR. Die schönsten Geschichten aus den Dobermann-Rallye-Archiven / In der wogenleeren Höhlung Dieser Text erfüllt alle Bedingungen des Dobermann-Rallye-Wettbewerbs Nr. ? (evtl 14?): Leider sind mir die Wettbewerbsbedingungen abhanden gekommen. Ich glaube, dies war der letzte Wettbewerb seiner Art. Kann sich noch jemand genau daran erinnern? Martin? Jochen? Hier der Versuch, die vier Bedingungen zu rekonstruieren. A. Eine Parkuhr soll explodieren. B. Eine Person der Handlung soll eine Sehnenscheidenentzündung haben. C. Der Text soll eine Mondamin-Rückrufaktion beschreiben. D. Irgendwas mit Weltkrieg oder der Zahl 1944. Dieser Text erschien trotz Einhaltung der Wettbewerbsbedingungen nicht mehr in den Dob Red Protokollen. Er erschien erstmalig 2005 in: Kaffee.Satz.Lesen 1-12. Die Redaktion Dobermann Rallye existierte von 1991 bis 2000. Publikationen der Redaktion erfolgten unter den Namen: Dobermann Rallye, Pekinese Schnitzeljagd und Die Dob Red Protokolle Martin Bartholmy / In der wogenleeren Höhlung / Die Dob Red Protokolle / ISSN 1435-1625