Die schönsten Geschichten aus den Dobermann-Rallye-Archiven 01

Nadine Hundertmarck
IM GEBIET DER KUSSZAHLEN

Eine Hand voll Gleichgültigkeit und ein Doppelbeutel bescheidener Hoffnung, mehr war nicht in meinem Köfferlein, als ich herrgottsfrüh am ZOB stand. Es war verdammt kalt, und nach einer halben Stunde gestand ich mir ein, dass ich den Bus verpaßt hatte.

Es war so enttäuschend! Doch die Möglichkeiten, Trost zu finden, schienen noch in ihren warmen Betten zu schlummern. So begab ich mich in eine Kneipe, die Mitte Eins hieß, und sah mich scheu um. Es war ganz in Ordnung, wenn die Leute da gleich sahen, dass ich es nicht gewohnt bin, zur Vorfrühstückszeit in Eckkneipen zu gehen.
Viele waren freilich nicht da. Mit meiner Ehrlichkeit begegnen konnte ich nur dem Wirt und so einem Gast. Ich trat sogleich zu den beiden hin und lächelte ihnen ein wenig entgegen und sie mir gehörig zurück.
„Ich wollte eigentlich mit dem Bus wegfahren, aber ich habe ihn verpasst. Deshalb bin ich hier reingekommen“, sagte ich.
Er freue sich über einen jeden Gast, und wohin denn die Fahrt hätte gehen sollen, entgegnete laut freundlich der Wirt und reichte mir eine Tasse Jakobs Krönung.
„Ach“, sagte ich und blickte trüb versonnen zu Wirt und Gast, etwas Regen tropfte mir aus dem Haar, „ins Gebiet der Kusszahlen. – Ins Gebiet der Kusszahlen sollte es gehen, dorthin wollte ich gerne fahren.“
„Kusszahlen?“ fragte sogleich der junge Mann, der hoffte, eine schöne Unterhaltung anfangen zu können, „was mag das wohl sein? Davon habe ich noch nie gehört.“
Dabei sei er nicht ungebildet, er habe Augenarzt gelernt. Ob es vielleicht mit Küßnacht in der Schwyz zu tun haben könne, das sei ja ein wirklich verträumtes kleines Städtchen am Vierwaldstätter See. Er sei im letzten Jahr dort gewesen, die hohle Gasse zu besichtigen.
„Nein“, sagte ich nur, „in die Schweiz sollte es nicht gehen.“
Der Wirt lächelte verschmitzt.

Ich weiß überhaupt nicht, wo das Gebiet der Kusszahlen eigentlich ist. Aber ein verträumtes Städtchen wäre mir ganz recht gewesen, wo man am See hätte sitzen können. Warum der Wirt so verschmitzt lächelte, wusste ich auch nicht. Vielleicht weil der Gast sich so ins Zeug legte und Goethe und Schiller bemühte, um eine schöne Unterhaltung mit mir anzufangen. „Wissen Sie, ich weiß gar nicht, wo das sein sollte“, sagte ich. „Es war als Überraschungsreise angekündigt.“

Der junge Augenarzt war ein ganz adretter Mann, und ich war so müde und hätte mich am liebsten zu ihm gelegt, den Kopf auf seiner starken Brust, und hätte mir erstmal ein paar schöne Komplimente servieren lassen. Aber er lag ja gar nicht; wir standen ja in dieser Kneipe rum. Ich lächelte trotzdem und beschloss, recht freundlich zu sein.
„Wissen Sie, ich wollte nur einmal einen Tag rausfahren, mit dem Bus ein wenig über Land, so Einiges hinter mir lassen, auf hübsche Gedanken kommen …. “
Ich verstummte und blickte versonnen in den Kaffee, was vielleicht eine ganz gute Strategie war, eher aber gar keine.
„Na hören Sie“, versuchte er es weiter, „das klingt ja schon gar melancholisch. Ich hatte gehofft, Sie hätten ihren Ausflug zu den schönklingenden Kusszahlen aus einer lieblicheren Grundstimmung heraus geplant. Aus Entdeckungslust und Reisefreude vielleicht, oder umgekehrt.“

Der Wirt lächelte gerade so weiter vor sich hin, wahrscheinlich in stiller Freude ob des sich anbahnenden kleinen Glückes.
„Ein bisschen Entdeckungslust,“ meinte ich, „ist ja immer mit dabei. Sagen Sie, warum tragen sie eigentlich keine Brille, sagten sie nicht, Sie seien Augenarzt?“
„Doch, gewiss bin ich Augenarzt“, sagte er, „ich muss jedoch gestehen, nicht aus der eigenen Betroffenheit heraus diese Berufsperspektive gewählt zu haben. Ehrlich gesagt, war es eher Zufall, und es ist mir auch nie gelungen, meine Arbeit zur Passion zu entwickeln.“
Ein bisschen ausladend und umständlich redete er ja schon. Aber egal.
„Ich bin Mathematikerin, deshalb dachte ich auch, das mit den Kusszahlen könnte ganz interessant werden“ sagte ich. Ich wusste nicht, was ich noch zu Berufsverständnis und Passionen hätte hinzufügen können. Ich lächelte ihn an.
Und das klappte nun auch schon. Tatsächlich fasste er sich ein Herz und sagte:
„Wollen Sie mir nicht die Freude erweisen, sich mit mir aufzumachen, in meinem kleinen Auto, auf die Suche nach dem Gebiet der Kusszahlen oder zuwenigst nach Küßnacht?“
Das war doch ein netter Vorschlag.
„Na warum nicht?!“ antwortete ich, und der Wirt strahlte nun über das ganze Gesicht.

Die schönsten Geschichten aus den Dobermann-Rallye-Archiven / Kusszahlen
Dieser Text erschien erstmalig im März 1994 in: Dobermann Rallye 4.
Die Redaktion Dobermann Rallye existierte von 1991 bis 2000.
Publikationen der Redaktion erfolgten unter den Namen: Dobermann Rallye, Pekinese Schnitzeljagd und Die Dob Red Protokolle
Nadine Hundertmarck / Im Gebiet der Kusszahlen / Dobermann Rallye 4 / Die Dob Red Protokolle / ISSN 1435-1625