Die schönsten Geschichten aus den Dobermann-Rallye-Archiven 11

Jean Mofette
… UND P. GING INS TREPPENHAUS

P. las an seinem Schreibtisch Sigmund Freuds Abhandlung über den Witz, er las, dass der Witz Ergebnis durch Unterdrückung labil gebliebener Triebe sei und da er nach Geselligkeit und Frohsinn strebte, beschloss P., in triebhafte Unreife zurückzufallen. Zuerst probierte er ein Lächeln, vor dem Spiegel zunächst, dann mit geschlossenen Lidern, um die Muskelbewegungen genau zu studieren. Er zwinkerte mit den Augen, er übte das Grüßen aus der Entfernung mit der Hand gewunken, am Ende alles zusammen, dazu begann er zu tanzen, er steppte fröhlich vor dem Spiegel und schüttelte einen Strohhut mit Erika. Das tat er fünfzig Jahre lang. Danach fühlte er ein ausreichendes Witzpotential.

Nun ging P. aus der Wohnung der Eltern mutig hinein ins Treppenhaus, die Treppe stürmisch herunter, doch hielt er im dritten Stock inne, denn er zweifelte. Dort stand er zweiundzwanzig Jahre. Eigentlich fast dreiundzwanzig, doch wir wollen gnädig abrunden, denn immerhin schob P. in jenem Jahr den linken Fuß auf die nächste Stufe. Also ist es nicht Gnade, sondern Recht, dass wir an dieser Stelle kein einziges Jahr mehr als zweiundzwanzig zählen, übrigens eine Zeit, in der ein Mann zur Reife kommen könnte, doch P. überstand die Zeit ohne Schaden. So berichtet ja auch schon Goethe: „Es begegnet mir von Zeit zu Zeit ein Jüngling, an dem ich nichts verändert noch gebessert wünschte; nur macht mir bange, dass ich manchen vollkommen geeignet sehe, im Zeitstrom mit fortzuschwimmen; und hier ists, wo ich immerfort aufmerksam machen möchte: dass dem Menschen in seinem zerbrechlichen Kahn eben deshalb das Ruder in die Hand gegeben ist, damit er nicht der Willkür der Wellen, sondern dem Willen seiner Einsicht Folge leiste.“ Ein Zitat übrigens aus Band fünf der von Ernst Sander im Jahre neunzehnhundertvierundzwanzig herausgegebenen gesammelten Werke des großen deutschen Denkers.

Wie dem auch sei: In den besagten Jahren zweifelte P. darüber, ob er eigentlich die richtige Richtung eingeschlagen hatte oder nicht, sagt doch auch hierzulande der Volksmund, dass es mit einem möglichst immer nach oben gehen solle. Sollte er zurück hinauf steigen, zur elterlichen Wohnung, an ihr vorbei? Oder sollte er dem einmal eingeschlagenen Weg folgen? Diesen ganz bis ans Ende gehen oder unterwegs abzweigen? Sollte er sich Zeit lassen oder besser sputen? War es richtig, hier zu stehen, oder vergeudete er sein kurzes Leben? Wie kurz ist eigentlich das Leben, wenn es immer so kurz ist wie es lang ist? Spielt das am Ende eine Rolle oder ist das falsch gefragt? Musste, durfte, konnte oder sollte er darüber ganz allein entscheiden? Stand ihm kein Genius, Gott oder Dämon mit gutem Rat zur Seite? Saß ihm kein Teufel im Nacken? War er noch im Treppenhaus oder schwebte er bereits in fremden Sphären? Vorsichtig tastete sich P. mit dem linken Fuß zur Stufenkante vor.
Mit ein paar Schritten brachte er es bis ins erste Stockwerk, wo er sich im Spiegelbild einer Fahrstuhltür erkannte, abermals verharrte und sich fragte, ob er eigentlich korrekt gekleidet war oder sich zum Narren machen würde, sobald er einen Schritt vor’s Haus täte. Gewissenhaft blickte er an sich herunter: Hatten die Schuhe die richtige Nuance oder zogen sie zuviel Aufmerksamkeit in die Tiefe, so dass nichts von ihm oberhalb der Kniescheiben Beachtung fände? Würde der Schnitt seines Hemdes Aufmerksamkeit erregen? Würde der Faltenwurf seiner Hose eine Revolution auslösen? Würde die Blume in seinem Haar der Welt endlich den verdienten Frieden geben? Oder der Gürtel an seinem Bund: Saß er locker genug? Oder die Kettchen mit den bunten Steinchen, die an seinen Handgelenken klimperten: Zeugten sie von gutem Geschmack? Roch die Nelke in seinem Knopfloch zu sehr nach Friedhof? Erschien das Taschentuch in seinem Ärmel ein wenig zu kokett? Oder war alles gerade richtig? Oder sollte er doch noch einmal nach oben, um sich ganz neu einzukleiden? Doch vielleicht war es schon zu spät, vielleicht war er schon zu lange fort, vielleicht ließen sie ihn nicht mehr rein oder vielleicht war das auch egal oder vielleicht auch nicht oder es kam auf ganz andere Sachen an, was wusste P. schon davon?!

Das aber war so in Ordnung, denn, wie schon Goethe sagte, und ich zitiere wieder aus des Meisters Gesammelten Werken herausgegeben von Ernst Sander: „Eigentlich weiß man nur, wenn man wenig weiß; mit dem Wissen wächst der Zweifel.“ P. zweifelte weitere neunhundertneunundneunzig Jahre lang, während er gesenkten Hauptes ins Erdgeschoss eintauchte: Sollte er das Wissen, das er sein Eigen nannte, wenig wie es war, weitergeben oder teilen? Wer wäre würdig, es zu empfangen? Die Jüngeren, die es noch nie besaßen? Oder die Älteren, die es längst vergaßen? Oder solche seines Alters? Wussten die’s nicht eh? Oder sollte er der Einz’ge sein? P. erkannte durch das trübe Glas der Haustür schemenhaft Gestalten: Menschen, die Regenschirme, Einkaufstüten oder Koffer mit sich tragend, vor dem Haus die Straße entlang gingen oder an der Bushaltestelle warteten. Einige grüßten sich im Vorbeigehen, andere blieben stehen für ein kleines Schwätzchen, wieder andere kamen gleich in größeren Gruppen, ab vier Personen aufwärts, mit Kindern oder ohne. Noch ein paar Schritte und P. wäre mitten unter ihnen, würde mit ihnen plaudern oder über das Wetter reden oder den Kindern einen schönen Tag wünschen, das wusste P. noch nicht so genau.

Die schönsten Geschichten aus den Dobermann-Rallye-Archiven / P. im Treppenhaus
Dieser Text erfüllt alle Bedingungen des Dobermann-Rallye-Wettbewerbs Nr. 6:
A. Die Handlung der Geschichte muss mindestens 200 Jahre umfassen.
B. Die Geschichte muss einen asymptotischen Verlauf nehmen.
C. Der Text soll ein Zitat von Goethe (mit Quellenangabe) enthalten.
D. Die Wörter und, oder und eigentlich sollen genau 13, 27 und 5 mal vorkommen.
Dieser Text erschien erstmalig im Juli 1998 in den Dob Red Protokollen 2.
Die Redaktion Dobermann Rallye existierte von 1991 bis 2000.
Publikationen der Redaktion erfolgten unter den Namen: Dobermann Rallye, Pekinese Schnitzeljagd und Die Dob Red Protokolle
Jean Mofette / … Und P. ging ins Treppenhaus / Die Dob Red Protokolle 2 / ISSN 1435-1625