Die schönsten Geschichten aus den Dobermann-Rallye-Archiven 04

Hendrik Fokken
MEIN ERLEBNIS MIT HERRN MANFRED VAN DER PÜTTEN

In meiner langjährigen Tätigkeit als Kaugummivertreter habe ich weiß Gott einiges erleben dürfen. Im Allgemeinen, das will ich wohl zugeben, verläuft mein Leben zumeist in ruhigen Bahnen, jedoch will ich hier von einem besonderen Tag aus meinem Berufsalltag berichten, der auch im Vergleich mit weitaus spektakuläreren Professionen die Mühe des Erzählens lohnt. Um so mehr, da ich von einem Kollegen auf den Literaturwettbewerb dieser wie mir scheint hervorragenden Zeitschrift hingewiesen wurde, dessen Kriterien, kaum zu glauben aber wahr, sich präzise mit den Einzelheiten des von mir Erlebten decken. Darum erscheint mir auch die Hoffnung auf den ersten Platz dieses Wettbewerbs durchaus berechtigt; wer sollte schon mit einer ähnlich authentischen Geschichte aufwarten können.

Es war vor etwa sieben Jahren, gegen Mitte September, als ich frühmorgens in der DC-10 des PanAm Linienfluges 245 von Mailand nach Chicago platznahm. Ich hatte die letzten Tage einige vielversprechende Geschäfte auf der Südtiroler Süßwarenmesse abschließen können und war nun guten Mutes unterwegs zu meinem Ferienhaus auf Ibiza. Zuvor allerdings hatte ich noch eine zugegebenermaßen recht ungewöhnliche Verabredung zu einem Arbeitsessen. Ich war mit meinem Chef übereingekommen, daß ich, da ich schon im letzten Jahr meinen Urlaub hatte verschieben müssen, ein seiner Meinung nach ach so dringliches Treffen mit dem Mitarbeiter der Firma Pattex höchstens noch während meiner Anreise nach Ibiza würde arrangieren können. So sollte ich also auf dem Weg nach Chicago, denn dieses war das Reiseziel meines Gesprächspartners, bei der Zwischenlandung auf Madeira umsteigen, um von dort aus via Lissabon wieder zurück nach Ibiza zu fliegen. Dieser kleine Umweg kostete meinen Chef knapp zweitausend Mark. Da wir uns nicht kannten, war als Erkennungszeichen eine Packung unseres beliebten Kaugummis Glue Chew ausgemacht worden.

Neben mir saß ein dicker, unsympathischer Mann und blätterte in der Donnerstagsausgabe des Kicker von vorletzter Woche. Gerade wollte ich ihn auf sein unappetitliches Schmatzen aufmerksam machen, da entdeckte ich die rosafarbene Glue Chew-Packung auf seinem Klapptischchen.
„Na das ist ja ein Zufall“, rief ich aus. Wie von unsichtbarer Hand geführt, saßen wir doch tatsächlich direkt nebeneinander. „Ja ja“, sagte der korpulente Herr, „Koinzidenzen wie mir scheint, woll.“
„Lieber Himmel“, dachte ich bei mir, „eine rheinische Frohnatur.“
„Van der Pütten, Manfred van der Pütten, mein Name, Pattex OHG. Na, da haben sie ja wohl ein feines Leckerli entwickelt, mein Lieber.“
„Ja?“, gab ich mich erstaunt, „schmeckt es ihnen so gut?“
„Das auch, das auch, ganz feiner Minzgeschmack, sehr lang anhaltend, ausgezeichnet. Aber was noch viel besser ist, mein Lieber, die Klebkraft von ihrem Kaugummi – formidabel.“
„Ist wahr?“, hakte ich nach.
„Ja ja. erst wollten wir es selbst nicht glauben, aber ihr Gummi klebt genauso gut wie unser Pattex. Haben wir natürlich gleich unsere Wissenschaftler drauf angesetzt, und was soll ich ihnen sagen, hier kommt der Hammer: Ihr Kaugmmi hat dieselbe chemische Struktur wie unser neuer Superkleber, bloß habt ihr noch ein paar Aromastoffe reingetan. Schade für sie, wir haben da nämlich ein Patent drauf. Klage läuft schon.“

Ich schlackerte ganz schön mit den Ohren. Glücklicherweise wurden gerade die Getränke gebracht. Wir wählten beide einen Tomatensaft.
„Oh, trinken sie auch so gerne Tomatensaft?“, erkundigte ich mich.
„Tja, Koinzidenzen Koinzidenzen. Aber mal was anderes, mein Lieber.“ Herr Van der Pütten beugte sich zu mir herüber. „Gucken sie mal unauffällig nach hinten, zwei Reihen weiter sitzt Lothar Matthäus“, flüsterte er mir ins Ohr.

Obwohl mir die ganze Situation recht peinlich war, konnte ich doch nicht umhin meiner Neugierde nachzugeben, doch nach einem kurzen Blick zurück mußte ich feststellen, daß dort keineswegs der Rekordnationalspieler Matthäus saß, sondern vielmehr der derzeit bei Juventus Turin unter Vertrag stehende Manndecker Jürgen Kohler. Herr Kohler mußte unser Gespräch verfolgt haben, denn er sah mir direkt ins Gesicht und streckte mir die Zunge raus.
„Und? Ham sie ihn gesehen?“, raunte mein Nachbar.
Ich hielt meinen Mund.

„Also folgendes“, kam Herr Van der Pütten wieder zur Sache, „wir können das mit ihrem Kaugummi natürlich so nicht durchgehen lassen. Und erzählen sie doch nicht, sie hätten davon nichts gewußt. Warum wohl haben sie das Zeugs Glue Chew genannt, Freundchen. Ich will ihnen mal dies Schriftstück zur Ansicht mitgeben. Vergleich. Kleine Zahlung von ihnen, Kaugummi wird umbenannt und die ganze Schose kann von unserer Seite als gegessen betrachtet werden. A propos gegessen, da kommt ja der Fisch.“
Aus dem reichhaltigen Angebot von zwei verschiedenen Menüs hatten wir doch tatsächlich die gleiche Wahl getroffen. Rotbarsch.
„Das gibts ja wohl nicht“, brüllte Herr Van der Pütten, „Koinzidenzen, Koinzidenzen ohne Ende.“

Während der Mahlzeit hielt er glücklicherweise den Mund, da er sich voll und ganz auf das im übrigen hervorragende Erbspüree zu konzentrieren schien. Doch kaum hatte er den letzten Bissen im Mund, nahm er mich wieder in Beschlag.

„Kennen Sie den schon?“, hob Herr Van der Pütten mit lauter Stimme an, „Sitzen drei Fußballer im Flugzeug. Romario, Paul Gascoigne und Lothar Matthäus. Als sie über England fliegen schmeißt Paul Gascoigne einen 1000 Dollar Schein aus dem Fenster. Was soll das denn?, rufen die anderen. Fürs Vaterland, sagt Gascoigne. Kurze Zeit später über Brasilien schmeißt Romario einen Goldklumpen aus dem Fenster. Fürs Vaterland, sagt er. Als sie über Deutschland sind schmeißt Lothar Matthäus eine Bombe aus dem Fenster.“
„Die sind aber eine komische Route geflogen“, werfe ich ein.
„Ist doch egal, aber jetzt kommts. Die drei fahren jedenfalls nochmal hin, um zu gucken, was passiert ist. In England treffen sie eine Frau und sagen: Da freuen sie sich aber über das viele Geld, woll? Wieso sagt die Frau, als mein Mann das Geld gefunden hat ist er abgehauen. Naja, dann fahren sie nach Brasilien und treffen die Frau mit dem Goldklumpen. Und? sagen sie, sind sie zufrieden mit dem Gold? Nee, sagt die Frau, der Klumpen hat meinen Mann getroffen, der ist jetzt hin. Als sie nach Deutschland kommen, treffen sie eine Frau, die ganz glücklich guckt. Was ist ihnen denn passiert?, fragen die drei. Och, sagt die, ich hab mit meinem Mann ne Wette abgeschlossen, wer lauter furzen kann. Als er einen fahren gelassen hat ist der Garten in die Luft geflogen.“

Mit einem Mal brach zwei Reihen hinter uns Herr Kohler in ein unglaubliches Gewieher aus. Herr Van der Pütten, der wohl auf eine derartige Reaktion gehofft hatte, blickte sich freudestrahlend um, zuckte kurz darauf aber erschrocken zusammen, denn Herrn Kohlers Gewieher schlug in ein lautstarkes Fluchen um. „Was ist das denn hier fürn Ekelzeug unterm Tisch. Das klebt ja wie die Pest.“ Herr Van der Pütten sprang sofort auf, um die Ursache dieses Wutausbruchs zu ergründen. „Darf ich mal, Herr Matthäus“, sagte er, pulte an der Unterseite des Klapptisches herum und steckte sich ein kleines Stückchen der klebrigen Masse in den Mund um so mit einem fachmännischen Gesichtsausdruck die Konsistenz zu prüfen.

„Pattex“, sagte er schließlich, und mit einem Lächeln im Gesicht, „…mit einem feinen Minzgeschmack.“

In diesem Moment ging ein gewaltiger Ruck durch den Rumpf des Flugzeugs, Alarmglocken schellten, Atemmasken fielen aus den Deckenluken und das Handgepäck stürzte durch die Kabine. Die Nase des Flugzeugs kippte steil rechts vornüber. Ich wurde ans Fenster gepresst und konnte so bemerken wie sich das Steuerbordtriebwerk von der Tragfläche löste. Meterhohe Flammen schossen achteraus. Tief unter mir kreisten Möwen um einen spanischen Fischtrawler.

Eigentlich, so hatten uns zumindest die Flugbegleiterinnen beim Start erzählt, soll man ja beim Landeanflug das Handy ausschalten, aber jetzt dachte ich mir Pfeif drauf und rief schnell meine Mutter an. Leider war besetzt.

Ich nahm mir ein Atemgerät und legte meine Schwimmweste an. Jetzt ist wohl Feierabend, dachte ich so. Kurz vor dem Aufprall liefen Bilder in rasend schneller Folge an meinem inneren Auge vorüber. Von Leuten, die ein derart schreckliches Erlebnis mal überlebt haben, weiß man ja, daß dann das eigene Leben wie ein Film nochmal abläuft. Bei mir kam aber Der mit dem Wolf tanzt. Originalfassung mit deutschen Untertiteln.

Der Absturz war verheerend. 136 Passagiere kamen ums Leben. Außer mir konnte lediglich Jürgen Kohler lebendig aus dem Wrack geborgen werden. Er trug nur leichte Prellungen davon. Zwei Tage später bestritt er sein 51. Länderspiel.

Die schönsten Geschichten aus den Dobermann-Rallye-Archiven / Manfred van der Pütten
Dieser Text erfüllt alle Bedingungen des Dobermann-Rallye-Wettbewerbs Nr. 5:
A. Der Absturz einer DC-10 soll eine zentrale Rolle spielen.
B. Jemand soll vor Lachen mit dem Knie am Kaugummi unterm Tisch haften bleiben.
C. Es soll ein Sportler mit mehr als 50 Länderspielen vorkommen.
D. Sowie die Formulierung: Koinzidenzen, Koinzidenzen ohne Ende.
Dieser Text erschien erstmalig im Juli 1998 in den Dob Red Protokollen 2.
Die Redaktion Dobermann Rallye existierte von 1991 bis 2000.
Publikationen der Redaktion erfolgten unter den Namen: Dobermann Rallye, Pekinese Schnitzeljagd und Die Dob Red Protokolle
Hendrik Fokken / Mein Erlebnis mit Herrn Manfred van der Pütten / Die Dob Red Protokolle 2 / ISSN 1435-1625