Die schönsten Geschichten aus den Dobermann-Rallye-Archiven 03

Yvonne Caldenberg
EINE TRAURIGE GESCHICHTE

Ich heiße Heinrich, von Beruf bin ich Controller, Chef-Controller bei Merill Lynch. Aber damit will ich sie nicht langweilen – wir haben ja alle so unser Päckchen zu tragen. Sorge bereitet mir auch die Wirtschaftslage in den Neuen Ländern, die ziemlich unheimlichen Tendenzen der Globalisierung und der Krieg da unten … Na, Sie wissen schon.

Aber so wollte ich meine Geschichte eigentlich gar nicht beginnen. Mein Kopf ist so voll, wo fange ich an? Letztes Jahr noch war ich glücklich verheiratet. – Nun, was man so gemeinhin unter glücklich versteht. Meine Frau und ich hatten gerade eine neue Wohnung bezogen, modernisierter Altbau, Dachgeschoß, – eine Maisonettewohnung, die sich durchaus sehen läßt. Unsere Jüngste – die anderen beiden, Marcel und Beate – sind schon aus dem Haus, unsere Jüngste, Karina, hatte ihr eigenes Zimmer, eigenes Bad, eigenes Telefon. Auch für meine Frau, Gitte, lief alles gut. Gerade erst war sie zur leitenden Redakteurin im Ressort Kultur der B******* Zeitung bestellt worden. Auch unser diesjähriger Urlaub auf den Malediven war sehr harmonisch verlaufen. – Nun gut, ich bin über die Jahre ein wenig korpulent geworden. Ich tat mich schwer mit dem Windsurfen, verbrachte mehr Zeit im Liegestuhl am Strand. Gitte hingegen hatte gerade das Tauchen für sich entdeckt. Sie erkundete die Riffe, filmte, erzählte mir auch davon… Aber das war alles kein Problem. Wir haben beide unsere eigenen Interessen, wissen das, verstehen uns aber, lieben uns sehr. – Auf den Malediven war alles noch gut.

Das eigentliche Problem begann erst, nachdem wir nach Berlin zurückgekehrt waren. Gut, unsere Jüngste, Karina, hatte gleich nicht mitkommen wollen, auf die Malediven. Bei unserer Rückkehr stellten wir fest, daß sie inzwischen ein Verhältnis mit einem Crackdealer eingegangen war, mit dem sie die Sommerferien in Los Angeles verbracht hatte. Auch in der Wohnung war das ein oder andere weggekommen – aber gut, für uns war das kein Drama. Wir hängen nicht so an Dingen. Hauptsache war, daß Karina gesund war, daß sie glücklich war. Andere Sprachen kennenzulernen, andere Kulturen – mal raus aus dem Ghetto ihrer Herkunft – solche Phasen der Rebellion sind in ihrem Alter, sie ist siebzehn, normal. Da haben wir selbst, Gitte und ich, in unseren jüngeren Jahren ganz andere Sachen gedreht. Gedreht ist das richtige Wort. Das legt sich mit der Zeit, das normalisiert sich.

Eine Woche waren wir wieder in Berlin, da ging meine Frau zum Arzt. – Krebs. Das war natürlich ein Schock. Aber der Krebs war nicht unbedingt malign. Heute gibt es ja viele Therapiemöglichkeiten. – Und gut, sehr viele unserer Bekannten hatten auch bereits Krebs – und die meisten von ihnen leben. Traurig war, daß unser kleiner Dobermann-Pinscher während unseres Urlaubs im Tierheim der Tollwut erlegen war. Aber er, der kleine Joachim, war ja nur ein Tier. Man sollte da nicht übermäßig sentimental sein. – Traurig war es natürlich doch.

Auch Karina machte, wie gesagt, eine etwas schwierige Phase durch. Daß sie nicht mehr in die Schule wollte, o.k., normal für ihr Alter, würde ich sagen. Sorgen machten uns eher ihre Hautgeschwüre, von denen sie behauptete es seinen modische Tätowierungen. Die ungefähr dreißig Ringe in ihrem Gesicht störten uns dabei nicht weiter. Aber ich frage sie: Tätowierungen, die eitern – das ist doch nicht gesund? Auch ihre Haare, sie trug seit einiger Zeit eine Glatze, die ihr im übrigen sehr gut stand, auch ihre Haare – es entging uns nicht – schienen keiner Rasur mehr zu bedürfen, sie schienen einfach komplett verschwunden zu sein.

Einige Gespräche – durchaus konfliktreiche und sehr offene Gespräche, nicht der übliche Smalltalk eben – einige Gespräche mit uns und mit einem Therapeuten, einem alten Freund von Gitte und mir, zeigten aber auch hier einen Weg auf. Karina offenbarte sich uns und ging schließlich – freiwillig will ich betonen, aus freiem Willen – für mehrere Monate in eine Therapieeinrichtung nach Las Vegas. Diese Episode war schmerzreich für mich und für Gitte. Aber gut: Auf dem Weg der Bequemlichkeit kommt man nicht voran. Und schließlich waren wir ja erfahrene Eltern.

Auch Gittes Krebs schien sich deutlich zu bessern. Die fehlenden Haare gaben ihr in meinen Augen einen ganz neuen Reiz. Ich entdeckte ihren Körper von neuem. Erst eine plötzliche Veränderung offenbart uns ja, daß wir, was eigentlich so zerbrechlich ist, eigentlich ein hohes Glück ist, daß wir das durch Routine für selbstverständlich genommen haben. Eine Krisis kann hier geradezu heilend wirken, kann die Verkrustungen des Alltags aufbrechen. – Und auch kulinarisch brachte Gittes Krankheit wieder Schwung in unsere vielleicht schon etwas schal gewordene Beziehung. Mit viel Freude versuchten wir zahlreiche Gerichte aus einem Rezeptbuch, daß sie von ihren Ärzten hatte.

Habe ich schon erwähnt, das ich zu dieser Zeit meine Arbeit verlor? – Nun, als Controller habe ich nie besonders gern gearbeitet. Eigentlich ist es ein verächtlicher Beruf. Der Vorteil war, daß ich jetzt viel mehr Zeit für die eigentlichen Dinge des Lebens hatte. Vor allem aber konnte ich mehr Zeit mit Gitte verbringen, die ja nun krankheitsbedingt auch nicht mehr arbeiten konnte.

Damals wurde auch unser Auto, ein 500er Cabrio, gestohlen. Ich hatte mich seit einiger Zeit schon mit dem Gedanken getragen, es abzustoßen. So war es dann sogar einfacher. Wozu ist man schließlich versichert? Finanziell war die Arbeitslosigkeit für uns sowieso kein Problem. Vielmehr fragten wir uns beide, warum wir solange in unbefriedigenden Berufen tätig gewesen waren. Sie müssen wissen, ich besitze mehrere Häuser, habe auch Anteile an zwei, drei Firmen; bei Gitte verhält es sich ähnlich. – Wir wollten ja auch nie voneinander zu abhängig sein.

Gitte verbrachte zur Erholung damals viel Zeit, lange Tage in unserem verschwiegenen Orchideengarten. Viel Vergnügen bereitete es uns, daß wir einige seltene Arten nun in Ruhe und mit viel Geduld zur Blüte brachten und in unserer neugewonnenen Muße ihr Erblühen und Verwelken auch ergriffen bestaunen konnten. Es gibt so viel Kommen und Gehen in der Natur, das einem meist im Trott des Alltäglichen unerkannt entgeht.

Nun – auch das kam leider zum Ende. Charlotte, unsere Perserkatze, fraß einige der Pflanzen und vergiftete sich daran. Im Todeskampf muß sie wohl eine der Petroleumlampen umgerissen haben. – Aber halb so wild. Der Dachstuhlbrand war schnell gelöscht. Und durch die notwendigen Aufräumungsarbeiten hatten wir endlich einmal Zeit, wieder unser Häuschen auf Sylt zu besuchen. Sehr entspannt verbrachten wir dort ruhige Tage und wunderten uns, was uns eigentlich vordem so häufig in die Ferne gezogen hatte, wo doch das Schöne – Deutschland – so nah sein kann.

Auch diese Zeit, wie alle Zeiten, fand ihren Abschluß. Die Kante der Insel bröckelte immer mehr. Das Meer forderte sein Recht zurück. Bevor wir unser Häuschen in den Fluten versinken sahen, beschlossen wir, doch wieder nach Berlin zurückzukehren. Zu denken gab uns, dass den gastfreundlichen Maledivern durch die Erwärmung unseres Planeten vielleicht bald dasselbe Schicksal drohte. – Sie hatten jedoch nie darüber geklagt, wir es nie bedacht.

In Berlin war alles sehr aufgeräumt. Consuela, unsere Zugehfrau hatte sich in unserer Abwesenheit rührend um alles gekümmert. Leider mußten wir sie bei unserer Rückkehr auf der Intensivstation besuchen. Wie wir erfuhren hatte sie von einem uns übersandten Geschenkkorb ein wenig genascht. Das uns zugedachte Gift überlebte sie nur knapp. Uns gab das sehr zu denken. Hatten wir doch Consuela zwar schon acht Jahre lang beschäftigt und auch überdurchschnittlich entlohnt – dennoch hatten wir uns nie wirklich mit ihr als Person, nie mit ihrer Familie oder ihrer Kultur auseinandergesetzt. Am Krankenbett und gemeinsam mit ihren Lieben lernten wir unendlich viel über die traurige Geschichte der Indios Guatemalas, lernten auch zahlreiche traurige Lieder zu singen und Tänze zu tanzen.

All das bereicherte uns ungemein. Gerade schien uns das Leben, das intensive Leben voller Neuigkeiten und Überraschungen wieder mitzureißen – die Erfahrungen der letzten Wochen hatten uns deutlich jünger gemacht – da geschah es. Eigentlich anfangs nichts Besorgniserregendes: Gitte mußte wieder einmal zur Chemotherapie, und mir war mein Lieblingsfüllfederhalter abhanden gekommen. Aber gerade als sich Gitte von mir in Richtung Krebsstation verabschiedete und ich verkrümmt über den Heizkörper gebückt stand, meinen Füllfederhalter vielleicht zu ergattern, da schlug dieser irregeleiteter Himmelskörper – quasi ein Autist des Weltenraumes – da rummste dieser Komet voll auf den Nordpol, trat am Südpol wieder aus und sorgte insgesamt für mächtig Wirbel. – Ein unglückliches Zusammentreffen.

Geistesgegenwärtig stiegen wir ein, hatten sogar noch Zeit uns anzuschnallen. In einer Rettungskapsel flogen wir von unserer Terrasse aus ins All. Zehn Runden drehten wir um die Erde, unterdessen Gitte mir leise Vorhaltungen machte, ich hätte nicht bedacht, in der Kapsel auch eine chemotherapeutische Station einrichten zu lassen.

Aber auch das löste sich. Ein zufällig des Weges kommendes Hospitalschiff holte uns an Bord. Gitte wurde umgehend in die Krankenstation gebracht, wo sie, ein Wunder der fremden Technik, sofort von allen ihren Leiden geheilt wurde. Am nächsten Tag stellten die freundlichen Außerirdischen dann, sie nannten sich übrigens „die Außerirdischen“, die ganze zerschmetterte Erde mit Hilfe ihrer verblüffenden Technik komplett wieder her. Quasi auf Knopfdruck. Wir schauten staunend durchs Teleskop – tatsächlich war kein Unterschied festzustellen, selbst unser Sylter Häuschen war wieder da wo es einst gestanden hatte. Zur Feier des Tages spendierte ich das Fläschchen Dom Perignon, Jahrgang 1923, das ich mit in unsere Rettungskapsel genommen hatte.

Obwohl dies aber kein schlechter Jahrgang ist, zeitigte der Dom Perignon einen unangenehmen Effekt. Erst bekam der Kapitän des gastfreundlichen Schiffes davon eine goldene Kung-Fu-Gürtelrose, dann implodierte er – und mit ihm leider auch das gesamte Universum. Als letztes Zeugnis meiner schicksalhaften Verfehlung übergebe ich dieses Manuskript, versiegelt in der verhängnisvollen Flasche, dem nicht mehr existierenden All. Möge es nie gefunden werden.

Die schönsten Geschichten aus den Dobermann-Rallye-Archiven / Eine traurige Geschichte
Dieser Text erfüllt alle Bedingungen des Dobermann-Rallye-Wettbewerbs Nr. 10:
A. Es muss eine Art Ehekrach beschrieben werden, wobei zwischen den Partnern mindestens zehn Runden ausgetragen werden.
B. Eine Hauptfigur muss von Beruf Controller/in sein.
C. Ein Komet muss am Nordpol in die Erde einschlagen und am Südpol wieder austreten.
D. Der Kommandant des Raumschiffes, das die Überlebenden rettet, hat einen goldenen Kung-Fu-Gürtel.
Dieser Text erschien erstmalig im April 2000 in den Dob Red Protokollen 4.
Die Redaktion Dobermann Rallye existierte von 1991 bis 2000.
Publikationen der Redaktion erfolgten unter den Namen: Dobermann Rallye, Pekinese Schnitzeljagd und Die Dob Red Protokolle
Yvonne Caldenberg / Eine traurige Geschichte / Die Dob Red Protokolle 4 / ISSN 1435-1625