Die schönsten Geschichten aus den Dobermann-Rallye-Archiven 27

Jean Mofette
KÄPTN BRISBAINES BEGEGNUNG MIT DER METAPHYSIK

Die Gischt stieg etliche Meter über die Reling bevor sie Käptn Brisbaine ins Gesicht klatschte. Mit völlig durchnässten Kleidern und halb durchgefroren stand der alte Seebär am Ruder, mit dem er das Schiff eisern auf Kurs hielt, allen Sturmbrechern trotzend, mit dem Windgebrause ein fröhlich Liedchen pfeifend. „Yohohoo!“ spuckte er plötzlich, „Was muß ich da in der Zeitung lesen?!“ Brisbaine traute seinen fünf Sinnen nicht, als er im Kulturteil der Bordgazette einen Essay mit der Überschrift „Abgefüllt. Die Welt in der Flasche. Von Theobald Braun.“ las. Der Autor war nämlich niemand anderes als Käptn Brisbaines erster Smutje und Bordwissenschaftler Theobald Braun, der, wenn er nicht gerade Labskaus kochte, meist damit beschäftigt war, in seiner Kajüte seltsame und merkwürdige Ingredenzien in Reagenzgläsern und Erlenmeyerkolben zu erhitzen und wieder abkühlen zu lassen.

In dem Augenblick, als Käptn Brisbaine unter Deck stürzte, saß Braun am Tisch neben seiner Hängematte, die er aus Platzmangel über eben diesen gespannt hatte, und brütete über einigen Blättern vergilbten Pergaments, von denen er ab und an das eine oder andere gegen das Licht einer Honigwachskerze hielt. Braun galt seit jeher als Experte im Vergilben von Pergamenten. Dank seiner unermüdlichen Forschungsarbeit hatte er es auf diesem Gebiet weit gebracht. Brisbaine mühte sich um einen energischen Ausdruck, als er Brauns Artikel theatralisch aus dem Revers zog: Wie er so einen Quatsch behaupten könne, quoll es aus Brisbaines bärtigem Gesicht, fernem Donnergrollen ähnlich, so dass Braun irritiert wurde und von unten heraufblickte. Dann aber beruhigte sich der Wissenschaftler, denn auch der Käptn könne sich nicht recht der Wahrheit verschließen, da diese nun einmal feststünde: „Die Welt endet nur wenige Meter neben dem Schiffsrumpf“, was auch leicht zu beweisen sei. Kaum, dass er die Worte ausgesprochen, sprang der Smutje auf. Brisbaine folgte Braun an Deck, der, dort angekommen, ein Stück Kernseife aus dem festgezurrten Bottich neben dem Hauptmast nahm und den Käptn anwies, jetzt ganz genau aufzupassen. Dann warf Braun, weit ausholend, das Seifenstück in einem hohen Bogen über den Wellenkamm hinweg gegen den Horizont und siehe da: Nur dreißig Fuß weit entfernt von den Planken, auf denen sie standen, schien es, als prallte die Seife von einer unsichtbaren Barriere ab, um in den schäumenden Wogen spurlos zu verschwinden.

Und wenn der Käptn genau hingehört hätte, behauptete Braun, dann hätte er sogar ein dumpfes „Klong“ vernehmen können, dass aus dem Aufprall des Seifenstücks auf die Barriere resultiere, die Braun „Ereignishorizont“ getauft hatte. Der Wissenschaftler führte aus, dass dieser Ereignishorizont das ganze Schiff umgäbe, in einem beinahe gleichmäßigen Abstand von etwa dreißig Fuß, und nur in Richtung des Schiffsbugs sich ins Unendliche zu verjüngen schien. In den letzten 80 Tagen, solange hatte Braun es gemessen, sei das Schiff immer in diese Richtung gefahren, ungeachtet jeder Kursänderung, die der Käptn angeordnet hatte. Was hinter der Barriere zu finden wäre, wenn man sie nur durchbrechen könnte, wusste Theobald Braun auch nicht zu sagen. Sicher schien jedoch, dass sich das Ereignende an sich vor allem diesseits der Barriere konzentrierte, und deshalb davon auszugehen sei, dass, wie man auf dem Schiff gern sagte, immer was los sein werde, vielleicht sogar für immer und ewig ‑ als Gegenstück zu der nur ungenau bestimmbaren Unendlichkeit vor dem Bug des Schiffes.

Aber wie sie denn hinein geraten wären in diese Flasche aus Ereignishorizont, wollte Käptn Brisbaine jetzt wissen. Braun zuckte mit den Schultern: „Möglicherweise liegt das in der Verantwortung einer überweltlichen Intelligenz, die uns, das Schiff und den ganzen Ozean geschaffen hat, um…ja, ich weiß auch nicht.“ Brisbaine starrte angestrengt in Fahrtrichtung. „Und da vorne ist ein Loch im Horizont?“ rief der Käptn mit provozierendem Unterton, so als wolle er seine Worte direkt an den Schöpfer richten: „Das ist schwer zu glauben!“ Der Ozean kochte förmlich. „In der Tat lässt diese Theorie den Endzweck unseres Daseins völlig offen.“ dozierte Braun und fuhr dann fort: „Vielleicht ist auch alles schon immer so gewesen wie es jetzt gerade ist.“ und er führte triumphierend aus: „Das würde auch erklären, warum wir noch nie einen Hafen angelaufen haben: Es hat ja noch nie einen gegeben!“ Brauns Stimme reagierte auf eigentümliche Weise mit dem Auf und Ab der Wogen, die mit dem Schiff zu spielen schienen, so wie Katzen es mit Mäusen tun, bevor sie ihnen das Genick brechen, was daher rührte, dass das Deck unter Brauns Pantoffeln ständig mit dem Wellengang wankte und der Wissenschaftler unregelmäßig zum Anhalten des Atems bei gleichzeitigem hastigen Armrudern genötigt wurde, wenn ihn die Bewegungen des Schiffs aus dem Gleichgewicht zu bringen drohten.

Schließlich bekam er ein Tauende zu fassen, das sich von der Rah gelöst hatte, und er sagte: „Im Grunde genommen unterscheiden sich die beiden Theorien gar nicht voneinander, denn wenn der Schöpfergott ohnehin außerhalb des normalen Raumzeitkontinuums waltet, spielt auch die Unendlichkeit der Zeitdimension, wie wir sie in der zweiten Theorie angenommen hatten, keine Rolle. Interessant dabei sind nur die Eigenarten abstrakter Begriffe: Wenn es zum Beispiel nie einen Hafen gegeben hat, woher wissen wir dann, was ein Hafen ist?“ Käptn Brisbaine senkte sein bärtiges Kinn und sinnierte im sonoren Bass: „Naja, ein Hafen ist das, wo wir glauben, dass wir herkommen, und das, wo wir glauben, dass wir hinmüssen.“ „Ziemlich dramatisch, nicht wahr?“ feixte Braun, „Aber jetzt kommt’s: Vor zwei Tagen fand ich heraus, warum wir bei Sturm immer so nass werden.“ „Warum denn?“ fragte der Käptn. „Weil unsere Kleidung ganz und gar aus kurzfaseriger Leopardenfellwolle gestrickt ist. Die hält nichts ab!“ „Donnerwetter!“ spuckte Käptn Brisbaine verblüfft aus, „Was wollen Sie damit sagen, Braun?“ „Käptn, ich werde mich weigern, Blasphemie mit f zu schreiben, wenn Sie verstehen, was ich meine. Aber bei Orkan auf dem Meer schippern mit nichts am Leib als Strickware aus kurzfaseriger Leopardenfellwolle ‑ das ist einfach nicht klug genug.“

Trotz der brodelnden Gischt konnte Braun erkennen, wie Käptn Brisbaine die Augenbrauen hochzog: „Verdammt Braun, was machen wir denn jetzt?“ „Da es schon zehn vor halbelf ist,“ antwortete der Angesprochene überlegen, „schlage ich vor, uns zur Mannschaft in die Kombüse zu schlagen und die letzten Labskausbrötchen klarzumachen, die ich heute morgen gemacht habe.“ Aber sie hatten kein Glück.

Die schönsten Geschichten aus den Dobermann-Rallye-Archiven / Brisbaines Begegnung mit der Metaphysik
Dieser Text erfüllt alle Bedingungen des Dobermann-Rallye-Wettbewerbs Nr. 7:
A. Ich werde mich weigern, Blasphemie mit f zu schreiben (Zitat).
B. Die Hälfte der Handlung (Textvolumen) muss sich im Innern einer Buddelschiffflasche abspielen.
C. Die Handlungsträger müssen sämtlichst in Leopardenfell gekleidet sein.
D. Das Frühstücksbuffet wird um 10:30 Uhr geschlossen.
Dieser Text erschien erstmalig im August 1999 in den Dob Red Protokollen 3.
Die Redaktion Dobermann Rallye existierte von 1991 bis 2000.
Publikationen der Redaktion erfolgten unter den Namen: Dobermann Rallye, Pekinese Schnitzeljagd und Die Dob Red Protokolle
Jean Mofette / Brisbaines Begegnung mit der Metaphysik / Die Dob Red Protokolle 3 / ISSN 1435-1625